Wozzeck

 

Alban Berg | Georg Büchner
Oper in drei Akten
nach dem Drama »Woyzeck« von Georg Büchner

ML: Markus Stenz
R: Ingo Kerkhof
B: Gisbert Jäkel
K: Jessica Karge,
Ch: Darie Cardyn
D: Georg Kehren
Lt: Andreas Grüter
Ch: Andrew Ollivant

Premiere: 20. Mai. 2011
Oper Köln | Palladium

Wozzeck: Florian Boesch
Tambourmajor: Gordon Gietz
Andres: Martin Koch
Hauptmann: Alexander Fedin
Doktor: Dennis Wilgenhof
1. Handwerksbursch: Sévag Serge Tachdjian
2. Handwerksbursch: Ralf Rachbauer
Narr: John Heuzenroeder
Marie: Asmik Grigorian
Margret: Andrea Andonian
Mariens Knabe: Jokubas Aust/ Sebastian Keller
Kinder: Kölner Domchor
Ein Soldat: George Ziwziwadze

Chor der Oper Köln
Gürzenich-Orchester

Ⓒ Fotos: Bernd Uhlig
Ⓒ Video: Theater-TV

Rezensionen

Ein Familienstück

Stefan Schmöe
2011
Online Musik Magazin

 

Der Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einem, wenn man hinunterschaut. Wenn in der Musik der Mond so suggestiv blutrot aufgeht, dass die Kölner Oper zu Recht auf jeden Bühnenmond verzichtet, dann liegt Marie in Wozzecks Armen wie ein kleines Mädchen in den Armen des schützenden Vaters, und einen Moment lang hofft man inständig gegen alles bessere Opernwissen, dieses eine Mal ginge vielleicht doch alles gut aus. Dann bricht er ihr das Genick. Dieser Wozzeck ist zärtlich und gefährlich, sanft und brutal, naiv und klug. Er ist nicht fassbar. Er ist nicht der soziale underdog, wie überhaupt die rezeptiosgeschichtlich ja lange dominierende Wir-arme-Leut-Geste ganz zurückgenommen ist. Dieser Wozzeck macht einen in der Tat schwindelig, und das ist auch das Verdienst des großartigen Florian Boesch in der Titelpartie. Der spielt die von Alban Berg geforderten Abstufungen zwischen sprechen und singen ungeheuer nuanciert aus, bleibt der Partie aber auch die großen Ausbrüche nicht schuldig. Mit seiner Erfahrung als Liedsänger findet er aber gerade in den leisen Momenten zu ungeheurer Intensität und zeichnet ein sehr differenziertes, vielschichtiges Rollenporträt.

Es ist eine aufregende Gratwanderung zwischen Schauspiel und Musikdrama, die Regisseur Ingo Kerkhof und sein sehr engagiert spielendes Ensemble unternehmen und bravourös meistern. Wozzeck ist wohl einzigartig darin, dass die Textvorlage, Georg Büchers Schauspielfragment Woyzeck, und Alban Bergs auf dem (verkürzten) Originaltext basierende Oper beide gleichermaßen im Repertoire verankert sind. Kerkhof inszeniert auf der fast leeren Bühne (eine Mülltonne gibt dem Ambiente einen trostlosen Anstrich) ein vom Sprechtheater inspiriertes Kammerspiel, das sich ganz auf die Beziehungen der Personen konzentriert. Die angenehm schlichten Kostüme (Jessica Karge) sind dezent historisierend, Bühnenbildner Gisbert Jäkel verzichtet weitgehend auf Requisiten. Als Wirtshaus dient ein Zelt, ansonsten sind Teich, Mond und Feld ebenso gestrichen wie Kaserne, Straße und Maries Haus. Die sehr konzentrierte Personenregie benötigt auch kein naturalistisches Ambiente, sie schafft sich die erforderliche Atmosphäre selbst.

Fairerweise müsste man den Titel in Wozzeck und Marie umbenennen, so präsent ist in dieser Inszenierung die weibliche Hauptperson. Asmik Grigorian ist eine jugendlich leichte, nicht sehr dramatische, aber stimmlich jederzeit souveräne Marie. Im (maßvoll) blasierten Tambourmajor sucht sie nicht (nur) erotische Abwechslung; sie findet in diesem entschlossenen und in die Gesellschaft integrierten Mann einen Gegenentwurf zum Daueraußenseiter Wozzeck. Da leuchtet auch das durch und durch moderne Familiendrama auf. Kerkhof muss keine Hartz-4-Welten inszenieren um zu zeigen, dass es hier auch um sehr zeitgemäße Lebensperspektiven geht. Marie wirft Wozzeck das Geld, das er ihr zu einem (hier schier unendlich lang gehaltenen) C-Dur-Akkord gegeben hat, nach, um es dann wieder aufzusammeln. Da gehen viele Brüche durch die Personen. Szenisch aufgewertet sind die Rollen des Kindes und des Narren, die ja bekanntlich die Wahrheit sprechen. Bereits vor dem ersten Ton zitieren die beiden das Anti-Märchen vom Waisenkind, das zur Sonne und den Sternen geht und dort nur eine verwelkte Sonnenblume und Mücken findet. 90 Opernminuten später wird das Kind auch ein Waisenkind sein, und es wird ebenfalls weder Sonne noch Sterne finden. Diese Perspektive ist eine weitere Ebene dieser unaufdringlichen, aber eindrucksvollen Inszenierung.

Die Spannung zwischen Schauspieltext und Oper hält bis zum Schluss und geht nie zu Lasten der Musik. Ab und zu könnte noch die Textverständlichkeit und die Aussprache besser sein. Die weiteren Rollen sind mit Gordon Gietz (etwas angestrengt) als Tambourmajor, Alexander Fedin als (zu wenig gefährlicher) Hauptmann, Dennis Wilgenhof (mit hintergründiger Komik) als Doktor, Martin Koch (unauffällig) als Andres und John Heuzenröder (sehr spielfreudig) als Narr musikalisch solide, wenn auch nicht exzellent besetzt. Die Freiheiten, die der Regisseur den Darstellern lässt, nutzen diese naturgemäß unterschiedlich gut; insgesamt ist das aber eine sehr ordentliche Ensembleleistung.

Unter der Leitung von GMD Markus Stenz herrscht im Orchester ein transparenter, kammermusikalisch klarer Klang vor, der die Nähe zum Schauspiel unterstreicht. Manche Szenen werden sehr pointiert und „trocken“ gespielt, wobei auch eine hintergründige Komik anklingt. Dann kann Stenz aber auch auf einen sehr geheimnisvollen Klang umschalten. Die Zwischenaktmusik im dritten Akt ist dann eine große spätromantische Hommage an Gustav Mahler. So stehen die Szenen fast collagenhaft nebeneinander (was dem fragmentarischen Charakter der Schauspielvorlage entspricht), aber die Übergänge sind so intelligent und schlüssig gestaltet, dass die formale Geschlossenheit der Oper deutlich wird. Mit dieser mehrdeutigen Interpretation gelingt Stenz und dem guten Gürzenich-Orchester Außerordentliches.


FAZIT

Vordergründig unspektakuläre, aber sehr raffinierte und vielschichtige Deutung des Wozzeck mit brillantem Hauptdarsteller und famosem Dirigenten.

Gesellschaft ohne Gnade

Das Unrecht der Stärkeren in Alban Bergs Oper Wozzeck – Opernzeit 06/11

Kerstin Maria Pöhler
24. Mai 2011
CHOICES | Kultur | Kino | Köln

„Brutale Bluttat in Leipzig! Asozialer ersticht Frau. Kind bleibt allein zurück.“ – So würde die Boulevardpresse heute den Mord (vor-)verurteilen, den Johann Christian Woyzeck vor fast 200 Jahren beging. Aus Eifersucht erstach er am 21. Juni 1821 die 46-jährige Witwe Johanna Christiane Woost. Der Prozess ging in die Kriminalgeschichte ein, da er zum ersten Mal die Zurechnungsfähigkeit eines Angeklagten untersuchte, selbst der sächsische Thronfolger setzte sich mit einem Gutachten für ihn ein. Der vom Gericht mit der Untersuchung beauftrage Arzt hielt den Täter jedoch für zurechnungsfähig, so dass Woyzeck am 27. August zum Tode verurteilt und öffentlich hingerichtet wurde. Die erhaltenen Krankenakten lassen heute darauf schließen, dass der Angeklagte unter Depressionen und Schizophrenie litt.

Büchner ergreift in seinem unvollendet gebliebenen Drama von 1836 Partei für Woyzeck, der erst durch die sozialen Umstände zum Täter wird. Er ist der klassische Underdog, ein Antiheld. Zunächst ordnet er sich unter und gehorcht. Doch als der Tambourmajor ihn mit seiner geliebten Marie betrügt, weiß er keinen Ausweg mehr: Er tötet Marie, dann nimmt er sich das Leben. Ihr Kind bleibt als Waise zurück.

Berg gelingt es, die unvollendet gebliebenen 31 Szenen Büchners zu einem in sich geschlossenen Musikdrama umzugestalten. Der Komponist sah das Schauspiel Wozzeck (!) 1914 in einer Bearbeitung des österreichischen Schriftstellers Franzos in Wien. Berg war tief beeindruckt und nutzte diese Version als Vorlage für sein Libretto. Sein einstiger Lehrer Arnold Schönberg riet ihm dringend von dem Stoff ab – eine Oper solle sich lieber mit Engeln, als mit Offiziersdienern beschäftigen. Doch Berg wagt es, neue Wege zu gehen und verschafft in seinem Musikdrama dem leidenden Menschen Gehör, der an dem Räderwerk einer mitleidlosen Gesellschaft zerbricht.

Die soziale Wirklichkeit hält Einzug in die Oper. Das hat eine Vielfalt der musikalischen Ausdrucksmittel und Stilebenen zur Folge, eine Musiksprache, die neben satirischen Tönen, wie etwa in der derben Wirtshausszene, auch verstörende Töne für das zunehmend psychotische Erleben der Hauptfigur findet. Wozzeck ist zuerst Opfer, bevor er zum Täter wird: Der Mord ist die bittere Konsequenz der persönlichen Deformation Wozzecks, die er durch die Gesellschaft erlitten hat. Und die Misere nimmt kein Ende: Der Gesamtaufbau der Oper ist von der Idee des ausweglosen Kreisens geprägt: Alle drei Akte schließen mit dem gleichen Akkord und die Schlußszene könnte musikalisch direkt wieder in den Anfang der Oper übergehen. Bergs expressive Musiksprache ist nicht allein der strengen Atonalität verpflichtet, sondern bedient sich oft einer freien Polytonalität, in der tonale Relikte verfremdet und mit Dissonanzen angereichert werden. Verzerrte Stilzitate, wie etwa der groteske Walzer bei der Untersuchung des Doktors oder das grell verfremdete Jägerlied in der Wirtshausszene spiegeln den Zynismus und die Aggressivität aller Beteiligten wider. Jeder kämpft hier gegen jeden, der Stärkere siegt, der Schwächere verliert.

Wie sieht die Zukunft des Kindes von Marie und Wozzeck aus? Hat das Kind aus „schwierigen Verhältnissen“ überhaupt eine Chance? Mehr als achtzig Jahre nach der Uraufführung von 1925, ist die Frage nach sozialer Gerechtigkeit und Solidarität in unserer Gesellschaft nicht gelöst.

INNENLEBEN

ALBAN BERGS »WOZZECK« IN KÖLN 

REM
01.02.2011
kultur.west
Magazin für
Kunst und Gesellschaft
in NRW

»Wir arme Leut«, singt der Wozzeck, als der Hauptmann ihm Moral predigt. Ein Erniedrigter und Beleidigter. Alban Berg hat in seiner Vertonung von Büchners Dramenfragment erstmals überhaupt in der Geschichte der Gattung Oper Armut und Elend ins Zentrum gestellt. Das kann auf der Bühne leicht im sauren Kitsch enden. Ingo Kerkhofs Regie hingegen vertraut auf die Kunst des Weglassens und setzt im Kölner Palladium mit kühler Konsequenz auf Reduktion und Ausnüchterung. Gisbert Jäkel hat ihm in der ehemaligen Industriehalle eine ungewöhnlich tiefe, hinten umdunkelte Bühne gebaut. Bläuliches Licht erhellt die karge Szene: zwei Brecht-Vorhänge, ein Festzelt für die Wirtshausszene und nichts als ein paar Requisiten, die rein und raus getragen werden. Jessica Karges Kostüme zitieren ländliche Vergangenheit.

Selbst das Messer fehlt, mit dem Wozzeck seine Marie ersticht. Er schiebt lediglich die bloße Hand unter ihr Kleid: ein tödlicher Griff. Die Inszenierung schaut in Wozzecks Innenleben. Florian Boesch zeigt ihn als versehrte, inneren Überdruck nur mühsam beherrschende Kreatur, die sich nicht mitzuteilen weiß. Dieser Wozzeck schwitzt und keucht nicht, er hat gar nichts »Verhetztes«, wie ihm der Hauptmann vorhält, eher etwas gefährlich Verlangsamtes, Stockendes. Vermieden sind die Klischees des armen Teufels. Wozzeck entwickelt eine verzweifelte Gebrochenheit, die in leisen Momenten den Abgrund zeigt. Inwendig glühend ist Boesch auch musikalisch das Kraftzentrum und stattet Bergs gewaltige Partie mit der Nuanciertheit und makellosen Diktion des Lied-Sängers aus. Nie poltert sein flexibler, edler Bariton, nie trumpft er auf,  im Gegenteil nimmt er ganze Passagen ins delirierende Piano zurück.

Asmik Grigorians Marie setzt ihren dunkel timbrierten, lyrisch angelegten,  herrlich ausschwingenden Sopran mit expressiver Vehemenz ein. Auch die weiteren Rollen sind vorzüglich besetzt. GMD Markus Stenz kennt die Tücken für die Sänger durch Bergs massiven Orchesterapparat, zumal in der knallig direkten Akustik des Palladiums, und hält das Gürzenich Orchester dynamisch an der kurzen Leine. Dadurch erreicht er mustergültige Transparenz und betörende Klangschönheit. Auch im Orchester also ungeheure Konzentration, Klarheit und  Intensität.