Die lustige Wittwe

Wiesbaden

 

von Franz Lehár
Libretto von Victor Léon und Leo Stein
nach Henri Meilhacs Lustspiel
L’attaché d’ambassade

MD: Johannes Klumpp
R: Uwe Eric Laufenberg
B: Julius Theodor Semmelmann
K: Jessica Karge
C: Myriam Lifka
Ch: Albert Horne
L: Andreas Frank
D: Bjarne Gedrath
Hessisches Staatstheater Wiesbaden

Baron Mirko Zeta Ralf Lukas
Valencienne Elisabeth Breuer | Anastasija Taratorkina
Graf Danilo Danilowitsch Thomas Blondelle
Hanna Glawari Elissa Huber
Camille de Rosillon Ioan Hotea,
Gustavo Quaresma

Vicomte Cascada Darcy Carroll
Raoul de St. Brioche Ralf Rachbauer
Njegus, Kanzlist Hans-Joachim Heist
Grisetten Carla Peters, Maria Dehler, Jasmin Herrera, Anna Heldmaier, Anna Dekker, Tamara Kurti
Junge Hanna Jasmin Herrera
Junger Danilo Joel Spinello
Chor & Chorsolist:innen des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden, Statisterie des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden
Hessisches Staatsorchester Wiesbaden

P: 03.12.2022

Fotos: © Karl und Monika Forster

 

 

Was ist Diplomatie?

 

TEXT EGON FRIEDELL

Die Schurkerei, sagt der Pessimist,
ist leider der menschlichen Rasse
ziemlich eingefleischt, was sich nur
zu oft gerade in den für uns typi
schen (sowohl privaten wie öffentli
chen) Handlungen zeigt. Nein, sagt
der Optimist, die Schurkerei ist der
bedauerliche Ausnahmefall, sonst
hätte sie nicht allemal das (sowohl
private wie öffentliche) Gewissen
gegen sich; gibt es zum Beispiel
irgendeinen offiziell anerkannten
oder gar staatlich betriebenen Beruf,
dessen Inhalt die Schurkerei wäre?
Gewiss, erwidert der Pessimist, gibt
es einen solchen: die Diplomatie.
Eine ganze Klasse von Menschen,
zumeist jener fetten, trüben Ober
schicht von Nichtstuern, Weiber
jägern und Hasardspielern angehörig,
die man die Creme nennt, wird von
der Regierung in besondere Schulen
geschickt, mit Revenuen ausgestattet,
mit Ehrenzeichen und Titel belohnt,
ausdrücklich und eingestandener
maßen dafür, dass sie ihr ganzes
Leben mit Intrigen, Spionieren,
Betrügen und Bestechen hinbringt:
staatlich anerkannte und besoldete
Gauner und Taugenichtse also.
Sie sind die Meister der Lüge, die
Handlanger der Hölle, die schlimmste
Spielart von Schurken, nämlich
Schurken mit gutem Gewissen, denn
sie lügen ja »fürs Vaterland«. In
der Renaissance taten sie einander
Gift in die Schokolade, ebenfalls
fürs Vaterland; was heute unseren
humanen Abscheu erregt. Aber der
Unterschied ist sehr klein: sie ver-
giften noch immer, nur mit feineren,
böseren Giften.
Mit Lügen lässt sich nie etwas
dauernd Wertvolles erzielen. Eine
Lüge ist nichts, ist allemal nur die
Negation irgendeiner Wirklichkeit;
wie sollte es möglich sein, auf
einem Nichts und einer Verneinung
irgendetwas von einiger Festig-
keit zu errichten? Jede Lüge ist eine
grenzenlose Stupidität: der sinn-
lose Versuch, einen Zweck mit prin-
zipiell untauglichen Mitteln zu
erreichen. Und daher kommt es wohl
hauptsächlich, dass geistig minder-
wertige Personen sich mit besonderer
Vorliebe zur diplomatischen Kar-
riere drängen. Ein Leben fortwähren
der Spiegelfechterei, Geheimnis-
krämerei, krummer, unreiner und
zweideutiger Beziehungen zu allen
Menschen und Dingen kann man
auf Dauer nur aushalten, wenn man
ein hoffnungslos gescheiterter
Dummkopf ist.
Pontevedro ist der Fantasiestaat in der Operette
»Die lustige Witwe« von Franz Léhar, in dessen
Pariser Botschaft die Handlung ihren Lauf nimmt.
Neben den genretypischen amourösen Verstri-
ckungen der Handlung spielen auch obskure poli-
tische Machtgeschäfte eine zentrale Rolle.
Insbesondere die titelgebende Witwe wird von der
Männerwelt aus patriotischen und egoistischen
Gründen umgarnt. Doch die Liebe steht den
diplomatischen Schachzügen der Herren schluss
endlich im Wege. Dass das Lügen ein unentbehrliches
Instrument des diplomatischen
Geschäfts sei, ist eine Lüge der Diplo-
maten. Wir haben seinerzeit erör-
tert, dass die siegreiche Grundkraft
sowohl Friedrichs des Großen wie
Bismarcks ihre tiefe Wahrhaftigkeit
war. Die Größe Julius Cäsars
bestand darin, dass er inmitten eines
trüben Chaos eine kristallklare
Seele war. Auch Napoleons Kardinal
begabung war die Fähigkeit, den
Realitäten ins Herz zu blicken, zu
ihnen in einer geraden Beziehung
zu stehen. Solange er der Sohn
der Tatsache blieb, war er der freudig
begrüßte Kaiser von Europa; als er
anfing, die Welt zu belügen, begann
sein Stern zu sinken.
Die Diplomaten haben natürlich den
Krieg nicht erfunden. Aber sie
sind seine stärksten Helfer und Ver-
längerer. Ohne sie würden die
Kriege nicht aufhören, aber sie würden
vielleicht seltener und bestimmt
edler, aufrichtiger und mit mehr
Widerstreben geführt werden; und
vielleicht, indem sie so ihre bishe-
rige Stellung in der Ökonomie unseres
Denkens und Empfindens immer
mehr verlören, würden sie dann doch
aufhören.

 

 

 

Quelle: Egon Friedell: »Was ist Diplomatie?«, in:
Ders.: »Kulturgeschichte der Neuzeit«, München 1929

 

 

 

 

„Die lustige Witwe“ in Wiesbaden:
Kommt ihr Ballsirenen

Frankfurter Rundschau
05.12.2022, 16:27 Uhr
Bernhard Uske

„Die lustige Witwe“ als reines Vergnügen am Staatstheater Wiesbaden

Kaum war der Vorhang im Großen Haus des Staatstheaters Wiesbaden geöffnet, die in schönster Empfangsgarderobe im Saal der Pontevedrinischen Botschaft zu Paris sich bewegende Gesellschaft gemustert, das erste Duett von Valencienne und Camille gesungen und der leichte und wunderbar biegsame Klang aus dem Orchestergraben wahrgenommen, war klar: In dieser Inszenierung der „Lustigen Witwe“ würde man weder durch konstruierte Spaßbremsen noch belehrende Interventionen am Genuss des 1905 von Franz Lehár in die Welt gesetzten Werks gehindert werden. Der Hausherr selber inszenierte, Intendant Uwe Eric Laufenberg, der sich zwar, wie das Programmheft zeigte, Gedanken zu diesem Prototyp der neuen Operette gemacht hat, aber den Satz Danilos, des fehldeutenden Liebhabers der lustigen Witwe wohl beherzigte: „Die Akten häufen sich bei mir, / Ich find’s gibt zu viel Papier.“

Jedenfalls entstand frühzeitig Begeisterung im Publikum, die sich bis zum Finale frenetisch steigerte. Man hatte eigentlich alles so gelassen, wie es ist: das quid pro quo der ewigen Geschlechtermissverständnisse, -konkurrenzen und -sehnsüchte bedarf nur einer sensiblen Fassung. Attraktion und Adhäsion – das sind Stichworte, die diesen strahlenden Abend beschreiben könnten. Eleganz und Mondänität kämen noch dazu. Meist Fremdwörter im deutschen Betrieb der darstellenden Künste, hier aber zweieinhalb Stunden währendes Ereignis aus tänzerischer Bewegung in strukturiertem Raum, schönstem Licht und feinem Farbklima. So konnte sich die auf unmittelbare Wirkung zielende akustische Materialisation perfekt ausbreiten.

Gespielt wurde in einem ein wenig nach heroischer und industrieller Moderne aussehendem Raum. Ein Betonstrebengerüst, das teils mit heimatkunstartigen Fresken bemalt, andererseits mit den typischen Hinweisschildern im amtlichen Publikumsverkehr ausgestattet war (Bühne: Julius Theodor Semmelmann). Ein schönes Environment, das die Situation von Operette in der verwalteten Welt des 20. Jahrhunderts dezent und doch nachdrücklich markierte. Die Kostümierung war klassische, große Abendgarderobe (Kostüme: Jessica Karge) in feiner Belichtung (Licht: Marcel Hahn), was eine Hoppersche Bildwirkung hatte. Später, im Maxim-Akt, kamen kesse, hautenge Grisetten-Textilien ins Spiel. Die lustige Witwe, zunächst in einer Art schwarz-weißem Frackkostüm, in der Pavillon-Szene in weißer Unterwäsche und schließlich in einer glitzernden Frackhälfte.

Die Bewegungsführung des vielmals tanzenden Chors, der ja einen entscheidenden Anteil an der performativen Kollektivität mit ihrem Übertragungspotential auf das Publikum hat, wurde voll ausgespielt. Operette – eine Massenkunst, die in Wiesbaden ihr Infektionspotential animierend entfaltete. Von beziehungslosen Bildern und Handlungen befreit, konnte sich die Musik in der Synchronizität der walzenden, wiegenden, springenden und statischen Haltungen der Akteure und Akteurinnen vollgültig zeigen.

Das Dirigat war ein Ereignis sondergleichen: was Johannes Klumpp im Staatsorchester an Subtilität, an bewegender Sprachkraft gerade in den leisen und zarten, puccinigleichen Melodiebögen zum Klingen brachte, was die hohen Streicher und die solistischen Celli dabei boten war oberste Klasse. Oft mit den Lichtpünktchen des zauberhaften Harfenglitzerns. Die meist jungen Solo-Stimmen mussten da mithalten können. Und ihre helle und leichte Diktion passte gut zum orchestralen Feinsinn. Eine schnell reagierende, bestens beherrschte Stimme hatte Elissa Huber als lustige Witwe, Thomas Blondelles Graf Danilo setzte seine schöne und etwas brüchige Stimme affektiv ein. Das illegitime Pärchen Valencienne-Camille von Elisabeth Breuer und Ioan Hotea bot reizenden Zwiegesang. Tadellos alle anderen Vokal-Rollen. Trefflich die witzige Sprecherrolle des Sekretärs von Hans-Joachim Heist. Der Chor in Gesang und Tanz: blendend.